Vorwort zum Programm

Tarun Kade
Kuratorischer Leiter, für das Team der Tangente St. Pölten – Festival für Gegenwartskultur
© Peter Rauchecker

Es war ein Tag im Juli 2023 am ehemaligen Glanzstoff-Gelände in St. Pölten, der mir ein Gefühl dafür gab, was die Tangente wirklich zu einem Festival für Gegenwarts­kultur machen könnte.

 

Ich arbeitete zu diesem Zeitpunkt gerade einmal etwas mehr als zwei Monate für das Festival. Christoph Gurk, bis kurz zuvor künstlerischer Leiter der Tangente und langjähriger Kollege an den Münchner Kammerspielen, hatte mich nach St. Pölten geholt. Nun hatte seine Mitwirkung bei diesem Projekt geendet und ich hatte die aufregende, verantwortungsvolle und auch ziemlich fordernde Auf­gabe übernommen, das von ihm und seinem Team entworfene Konzept und Programm weiterzuentwickeln 
 und zusammenzuführen.

 

In dieser Woche stand die zweite Ausgabe des Som­merprogramms der Tangente Stadtprojekte an. 
 Die Stadtprojekte sind so etwas wie das Herz des Festivals. Mit dem Ziel, nachhaltige Verbindungen zu stiften, arbeiten die Kurator:innen Magdalena Chowaniec, Muhammet Ali Baş und Andi Fränzl seit über zwei Jahren an der Verknüpfung der Tangente mit der Stadt. Da­für veranstalten sie Gesprächsformate wie den „Kulturdialog“ oder Aktionen, Versammlungen, Essen und Kunst im Rahmen der Reihe „Neue Freund­­schaften“. Das Sommerpro­gramm war so eine Initiative der „Neuen Freundschaften“. Für eine Woche wur­de „Die Villa“, die ursprünglich Wohnstätte des Bruders des Glanzstoff-Firmengründers gewesen ­war, zum Stadtteil­kulturzentrum erklärt. Es gab dort zum Beispiel ein Mosaikatelier für Familien, Hip-Hop-Workshops und auch ein Grillfest mit Ka­raoke. Alles bei freiem Eintritt.

 

Am Tag des Grillfests war der Berliner Künstler Markus Selg zu Gast in St. Pölten, um die orts­spezifi­sche Installation „Wasteland“ vorzubereiten, die er, so hoffte ich, gemeinsam mit der Regisseurin ­Susanne Kennedy im Sommer 2024 auf der Brache hin­ter der ehemaligen Glanzstoff-Fabrik verwirklichen würde. Früher hatte sich hier die Spinnerei befunden, Selg und Kennedy nannten sie den Tempel. Mit Hilfe einer Augmented-Reality-App ließ der Künstler ein Wesen, das er mit Mitteln künst­licher Intelligenz aus den Samen einer auf dem Glanzstoff-Gelände wachsenden Magnolienfrucht entwickelt hatte, durch den „Tempel“ fliegen. Auf dem Smartphone-Bildschirm erweiterte sich vor meinen Augen die Realität der In­dustrieruine um Naturphänomene und virtuelle Welten. In der Überlagerung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von virtueller und physischer Realität berühren die Arbeiten von Susanne Kennedy und Markus Selg die Festivalthemen Ökologie und Erinnerung auf überraschende Weise.

 

Es hatte wieder zu regnen begonnen. Hungrig liefen wir dort hinüber, wo Musik und Stimmen zu hören waren, zur Villa. Dort standen die Kurator:innen der Stadtprojekte zusammen mit einem Mann am Grill, der mir als „Markus, unsere helping hand“ vorgestellt wurde. Sie bereiteten Fleisch, Würstchen, Halloumi und Gemüse für die warten­de Schlange von Kindern, Eltern, Künstler:innen und Teammitgliedern zu. Im Hof spielten Kinder Fußball oder malten mit Kreide Bilder auf den Boden. Bis vor einigen Jahren war die Villa, die St. Pöltener:innen wissen das, eine Gaststätte mit Biergarten gewesen. Markus erzählte, dass er hier vor über fünf Jahren seine Hochzeit gefeiert hatte. Nun war er gerne an den Ort dieser für ihn so ­wichtigen Erinnerung zurückgekehrt, um zum Gelingen des Sommerprogramms beizutragen. Ich setzte mich zu einer Gruppe von Leuten an einer Bierbank unter der beeindruckenden alten Rotbuche und begann zu essen. Es war zu schmecken, dass die Kurator:innen ihre zentrale Exper­tise weniger in der Zubereitung von Grillgut für größere Gruppen hatten, sondern vor allem in der Herstellung sozialer Situationen. In so einer befand ich mich offensichtlich gerade.

© Katie-Aileen Dempsey

Neben mir saß die Künstlerin Tuğba Şimşek, die gerade das Mosaikatelier für Familien mit Kindern geleitet hatte. Sie fragte Markus Selg nach seiner Praxis („immersive Theater- und Medienkunst“), den Kontexten, in der er an­sonsten seine Arbeiten zeigt („gemeinsam mit Susanne Kennedy zuletzt vor allem Volksbühne Berlin, Wiener Fest­wochen, Festival d’Avignon“), den Themen seiner Arbeit („neue Rituale, virtuelle Realität, Natur als Bühne“). Ich stellte Tuğba Şimşek Fragen zu ihrer Arbeit. Şimşek erzählte von ihrer Ausstellung „Ramba Zamba“ im Kunstver­ein Grafschaft Bentheim, bei der sie farbige Kreide ausgelegt hatte und die Besucher:innen die Wände des Ausstellungsraums mitgestalten konnten. Dass sie seit dem 19. Februar 2020, dem Tag des rassistisch motivierten An­schlags in Hanau, bei dem ein Mann neun Menschen ermordet hatte, den Entstehungszeitpunkt jeder ihrer Arbeiten mit Kreide dokumentiert, recherchierte ich an einem anderen Tag im Internet.

Später, als es wie aus Kübeln zu schütten begonnen hatte, wurde in der Villa Karaoke gesungen. Popsongs auf Türkisch, Deutsch, Persisch, Arabisch und Englisch.

„Zum Tanzen in den Gassen / Aus Angst beim Küssen / Für meine Schwester, deine Schwester, unsere Schwestern.“ Ich holte mir einen Regenschirm von unserer Produktionsleiterin Anna Sonntag, schaute nach Markus Selg, der inzwischen wieder in seinen „Tempel“ abgewandert war, und wir stiegen in ein Taxi. Wenige Tage später war die Produktion „Wasteland“ fixiert.

 

An diesem Tag am Gelände der „Glanzstoff“ wurde die Tangente für mich sicht-, spür- und greifbar – im Aufeinandertreffen von Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Hintergründe, die durch Kunst und Kultur zu­sammenkom­men und sich damit beschäftigen, was unser Zusammenlebens gegenwärtig bestimmt.

 

So wie es Markus Weidmann-Krieger, Martha Keil und Boriana Karapanteva-Strasser tun, beschrieben in den Por­träts, die die Journalistin Solmaz Khorsand für dieses Programmbuch verfasst hat. Als Landschaftsgestalter im Sonnenpark, als Direktorin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs und als Lehrerin im Schulzentrum Eybnerstraße gestalten sie Umwelt, Erinnerungskultur und demokratisches Zusammenleben in St. Pölten mit. Nicht nur im Rahmen eines Festivals, sondern im Zentrum ihrer Biografien.

 

In den vier großen Fotostrecken in diesem Buch bilden sich weitere Perspektiven auf die Inhalte der Tangente ab. Es geht um Weltpolitik und lokale Mikrokosmen, es geht um Grassroots-Initiativen und Großkonzerne, es geht um Musik, Theater, Diskurs und Communitys, es geht um Geschichte, Gegenwart und Zukunft, es geht um St. Pölten, Österreich und die Welt. Es geht ums Ganze.

 

Denn, dass in Europa wieder Kriege geführt werden, dass Naturkata­strophen zahllose Menschen aus ihren Heimaten treiben, dass rechtsnationale Parteien die ökonomischen und ökologischen Ängste der Men­schen in den Dienst von menschenverachtenden Ideologien zu stellen versuchen – damit sind wir jeden Tag aufs Neue beschäftigt. Debatten um Migration, um Klimaschutz und ­Demokratie polarisieren die Gesellschaften. In Österreich und der Welt.

 

Die Tangente ist ein Festival, das sich der Gegenwart ver­schrieben hat. Die Gegenwart ist die „Tipping Time“, in der es gilt, die Zukunft zu gestalten. Die Tangente beschäftigt die Frage, wie wir in dieser Gegenwart Spielräume des Handelns und Gestaltens wiedergewinnen können. Und sie ist selbst ein Versuch, das auch zu tun. Es hätte sie ohne die große gemeinsame Kraftanstrengung vieler Bürger:innen der Stadt St. Pölten für die Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas 2024 nie gegeben und sie ist deshalb auch ein Festival für und in Zusammenarbeit mit vielen St. Pöltner Menschen, Institutionen und Geschichten.

The Way of the Water © Lorena Moreno Vera

Mein Dank gilt dem künstlerischen Beirat, Bettina Masuch, Constanze Eiselt vom Festspielhaus St. Pölten und Marie Rötzer vom Landestheater Niederösterreich, für die institutionsübergreifende Mitgestaltung. Mein Dank gilt­­ Roland Risy und Thomas Pulle vom Stadtmuseum und allen lokalen Kooperationspartner:innen. Mein Dank gilt Christoph Gurk, der als künstlerischer Leiter die Tangente entwickelt und geformt hat. Und natürlich dem gesamten Team der Tangente St. Pölten.

 

Ich freue mich auf den von Joanna Warsza mit Lorena Moreno Vera kuratierten Kunstparcours „The Way of the Water“. Über 20 Künstler:innen aus aller Welt erarbeiten neue Werke in Zusammenarbeit mit St. Pöltner Gewässern, der Traisen und dem Mühlbach. „The Way of the Water“ ist den ganzen Festivalzeitraum über kostenfrei zugänglich. So wie alle bildende Kunst, die die Tangente initiiert, im ­öffentlichen Raum frei zugänglich ist. Die skulpturalen Inter­ventionen am Domplatz von Christian Philipp Müller und Mariana Castillo Deball ebenso wie die partizipative „Stadt-Galerie“ in Leerständen und Schaukästen.

Ich freue mich auf spektakuläre Koproduktionen im Festspielhaus, etwa die Oper „Justice“ von Milo Rau, Hèctor Parra und Fiston Mwanza Mujila mit dem Tonkünstler-Orchester, Philippe Quesnes beim Festival d’Avignon, bei der Ruhrtriennale und in Athen gefeierte Arbeit „Der Garten der Lüste“ und neue Inszenierungen der Tanzerneuer:innen Crystal Pite, Jeremy Nedd und Kyle Abraham.

 

Ich freue mich auf die im Landestheater St. Pölten entwickelten internationalen Koproduktionen mit dem nieder­ländischen Kollektiv Wunderbaum und dem iranischen Regisseur Amir Reza Koohestani ebenso wie auf die Gast­spiele der polnischen Regisseurin Marta Górnicka und der Argentinierin Lola Arias.

 

Ich freue mich auf ungewohnte Perspektiven beim Theater zwischen Wald und Wiese „Shared Landscapes“ sowie beim Kinderstück „Super Farm“ von Saeborg und der Wrestling­show „Kampf um die Stadt“ in der Jahnturnhalle.

 

Ich bin gespannt auf Tangente Neuproduktionen wie „X-Erinnerungen“, „Nichts als Schule“ von Anita Lackenberger oder Tania Brugueras „Many Ones“.

 

Ich will meinen Horizont erweitern bei der Klimakonferenz „Tipping Time“ in Kooperation mit GLOBART und Solektiv im Sonnenpark, bei der Erinnerungskonferenz „Erinnerungsbedarf“ in Zusammenarbeit mit dem Institut für jüdische Geschichte Österreichs und der Coalition for Pluralistic Public Discourse und bei der Jugendkundgebung „Listen Now“ mit vielen lokalen und überregionalen Bündnissen, Initiativen, Verei­nen aus der Jugendarbeit und vor allem mit Jugendlichen.

 

Ich freue mich, in der Reihe „Orgel Experimentell“ von Kali Malone, John Zorn und Elisabeth Schimana sowie bei den Musikminifestivals „Alien Disko“, „StadtLandFluss“ und „Working Class“ überrascht zu werden. Ich werde mich mitreißen lassen von den großen Konzerten am Domplatz.

 

Ich hoffe, Sie machen mit bei unserer kritischen Redaktion KREDO, bei Teresa Distelbergers Dialogspiel „about home“, unserem „Songwriting Call“ (musik.stp), bei der ­„Visionale“ oder beim Frauen*-Tanzprojekt.

 

Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit den lokalen Kooperationspartner:innen wie dem KinderKunstLabor, dem Festspielhaus, dem Landestheater, der Bühne im Hof, dem Stadtmuseum, Blätterwirbel, Cinema Paradiso oder dem Freiraum.

 

Ich freue mich auf all die kleineren und größer­en Programmpunkte, die es nicht in die­ses Buch geschafft ­haben, die immer aktu­ell unter tangente-st-poelten.at nachzulesen sind.

 

Ich freue mich auf viele Gespräche bei Essen, Trinken und Musik im Festivalzentrum in der Linzer Straße, das vom Architekturkollektiv Biennale Urbana (BUrb) in Zusammenarbeit mit lokalen und internationalen Partner:innen gestaltet wird.

 

Ich freue mich, mit Ihnen den Fährten zu folgen, die die Kunst uns legen wird. Auf die kurzen gemeinsamen Augenblicke der Freude und die lang nachklingenden Irritationen des Augenblicks!